Vor 10 Jahren: Kolloquium zur Zukunft der Orgel von St. Marien
Im November 2009 lud der Organist der Rostocker Marienkirche, Karl-Bernhardin Kropf, im Namen der Ev.-Luth. Innenstadtgemeinde zu einem Kolloquium ein, welches die Zukunft der Orgel der Marienkirche behandeln sollte. Kropf hatte 2007 die Stelle des Kirchenmusikers an St. Marien angetreten. Bereits sein Vorgänger, KMD Joachim Vetter, hatte ab ca. 2000 einzelne fachliche Stellungnahmen von Orgelbauern eingeholt, um Planungen für eine Restaurierung (bzw. einen Neubau, denn darauf liefen die Gutachten mehrheitlich hinaus) anzuschieben. Doch war man an der Kirche zunächst noch mit Sicherungsaufgaben am Bauwerk selbst befasst.
Ein Ende dieser Sicherungsmaßnahmen kam erst um 2009 überhaupt in Sicht (sie sind aktuell – Januar 2020 – bis auf zwei Fenster am nördlichen Chorumgang abgeschlossen), so dass nun auch Luxusprobleme wie die Orgel betrachtet werden konnten.
Vorbereitung
Monate vor dem Kolloquium hatte Dr. Martin Kares (Karlsruhe) einen Tag in der Orgel verbracht und ein für den damaligen Kenntnisstand relativ aufwendiges Gutachten erstellt, das aber viele Angaben des Organisten und Aussagen vorhandener Quellen einfach übernahm.
Klangliche Vorstellung und Besichtigung der Orgel
Am Freitag, dem 6. November, gab es abends eine klangliche Vorstellung der Orgel durch den Organisten. Zu dieser lässt sich rückblickend sagen, dass sie erstens unter der geringen Temperatur der Kirche (7 Grad) litt, was das Wohlwollen der Anwesenden in Grenzen hielt. Außerdem wählte Kropf einen eher „poetischen“ Ansatz durch Vorstellung vieler Einzelstimmen und filigraner Kombinationen. Das halbwegs kräftige Tutti der Orgel sparte er für einen knappen Schluss auf. Damit bestätigte er alle Vorurteile des Instruments über eine schwächliche Tongebung, und die Anwesenden nahmen die Kraft des Finales als Überraschung, aber auch Ausnahmesituation im Gebrauchsspektrum dieser Orgel zur Kenntnis. (In diesem Zusammenhang prägte ein Teilnehmer den Begriff des „größten Fernwerks der Welt“…)
Im Anschluss an die klangliche Vorstellung fand eine ausführliche Begehung des Instruments statt, bei der sich die Teilnehmer von der schwierigen baulichen Verfassung der Orgel überzeugen konnten.
Vortrag, Statements und Diskussion
Für den Sonnabend, den 7. November, stellte die im ehemaligen Katharinenkloster untergebrachte Hochschule für Musik und Theater Rostock den Orgelsaal zur Verfügung – dafür sei auch heute noch einmal gedankt.
Der Tag begann mit einem Vortrag von Prof. Dr. Hermann J. Busch (Universität Siegen) unter dem Titel „Orgelmusik 1938 – Ein europäisches Panorama“, also über jene Epoche, die den heutigen zustand des Instruments ästhetisch und technisch prägte. Auch wurde die Rezeption der aus dieser Zeit stammenden Instrumente behandelt. Der Vortrag wurde mit Tonbeispielen illustriert.
Anschließend hatten sich einige der anwesenden Orgelbauer bzw. Sachverständigen zu Wortbeiträgen gemeldet:
Es war ursprünglich vorgesehen, in diesem Beitrag knappe Zusammenfassungen dieser Statements wiederzugeben. In der Vorbereitung zeigte sich, dass es doch notwendig wäre, das bisher unvollendete Transskript des Tages fertigzustellen und zu veröffentlichen. Dann wären die Beiträge und die Diskussion öffentlich verfügbar. Dieses Vorhaben wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Update 2021: Der Bericht ist erschienen! Mehr dazu>>
In der dem Mittagessen folgenden Plenumsrunde wurde die Skepsis gegenüber der Bausubstanz von 1938 bestätigt, wenn ihr auch gewisse Reize und Stärken zugestanden wurden.
Einig war man sich einerseits darin, dass die Quellenforschung zur vorhandenen Orgelsubstanz deutlich nachgearbeitet werden müsste, und dass andererseits verschiedene praktische Versuche notwendig wären. In den Fokus rückte dabei das II. Manual, das allgemein als „Hauptwerk“ der Orgel verstanden wird. Dieses sollte entweder versuchsweise mit besserer Windversorgung ausgestattet und das Pfeifenwerk entsprechend neu intoniert werden, um das Potential einer solchen Maßnahme stellvertretend für die restliche Orgel besser einschätzen zu können.
Radikaler war der Vorschlag von OBM Wegscheider, das Pfeifenwerk des II. Manuals abzuräumen und einzulagern, und stattdessen probeweise durch im historischen Sinne gefertigtes Pfeifenwerk – seien es auch nur wenige Register – zu ersetzen. Ideal wäre seiner Meinung nach sodann gewesen, einen mechanischen Spieltisch für nur dieses Werk zu fertigen, da der Trakturweg extrem kurz und daher relativ unaufwendig wäre.
Grundsätzlich sollten Messungen an den Windladen in Hinblick auf ihre Eignung für ihre künftige Verwendung stattfinden.
Die Runde äußerte die Hoffnung, dass eine dieser Maßnahmen zustande käme und man sich zur Beurteilung derselben wieder versammeln können würde.
Aus dem Bericht von Wolfgang Baumgratz in Ars organi 58/1 (März 2010, p. 52-53):
Fazit dieses Symposiums war: Eine mögliche Restaurierung dieser bedeutenden Orgel kann nur in einem komplizierten, langwierigen und auch kontroversen Prozess angegangen werden. Das gewünschte Ziel wird sein, diese besondere Orgel in einen prominenten klanglichen und technischen Zustand zu bringen, der ihr einen wichtigen Platz in der nordostdeutschen Orgelwelt mit ihren bedeutenden Instrumenten von Stellwagen über Buchholz, Friese und Walcker einräumt und sichert.
Was wurde umgesetzt? Wie entwickelte sich die Situation?
- Erkennbar wurde, dass aufwendige Experimente für die Kirchengemeinde nicht finanzierbar sein würden. Viele Gastorganisten und nicht zuletzt K.-B. Kropf entlockten dem Instrument in den nächsten Jahren „bessere“ Klänge als ihm eigentlich zugestanden wurden, zumal auch einige kleine Mängel beseitigt werden konnten.
- Im Bereich des II. Manuals wurden seitlich, darüber, vor dem rückwärtigen Tunnel und vor Vertiefungen des Gehäuses folierte Schichtholzplatten als Reflektoren und Abschlüsse eingesetzt. Der Effekt dieser aus dem Orgelfonds der ehemaligen Mecklenburgischen Landeskirche geförderten war gering, was den beim Symposium geäußerten Vermutungen entsprach.
- Ebenfalls wurden im Jahr 2019 wurden die Windladen genau vermessen und einzelne Fremdpfeifen in das Instrument eingebracht. Ersteres ließ die weitere Nutzung der barocken Laden möglich erscheinen, das zweite bestätigte die Einschätzungen jener Symposiumsteilnehmer, die deutlich kräftiger klingendes Pfeifenwerk für nötig hielten.
- Im Frühjahr 2019 untersuchte Martin Dücker (Mitglied der Orgelkommission) historische Quellen in den Rostocker Archiven, vorrangig aus der Zeit der Orgelbauer Schmidt und Marx. Dabei wurde erkennbar, dass trotz teilweise schmeichelhafter Gutachten schon bei der Ablieferung beider Instumente gröbere Mängel bestanden.
- Die Entwicklungen in der Orgelbauszene in den Jahren nach 2010 zeigten mit entspanntem Umgang elektrischer Steuerungsmöglichkeiten einerseits und zunehmenden Ambitionen in Richtung eines stark beeinflussten Pfeifenklangs („winddynamische Orgel“) bemerkenswerte Aspekte auf, die bei den ersten kommissionellen Überlegungen für eine Orgelrestaurierung (ab 2019) eine Öffnung des Projekts für neuartige Klänge und Spielarten bewirkten.
- Stark gesteigerter Tourismus in Rostock und der Marienkirche zeigte den Verantwortlichen darüber hinaus, dass ein hohes Grundinteresse an dieser Orgel besteht und Maßnahmen zu ihrer Popularisierung nötig und zugleich fruchtbar sind.
Alle weiteren Entwicklungen werden auf dieser Website dokumentiert werden.
Auch zu diesen Entwicklungen enthält der 2021 erschienene Bericht Aussagen>>
Teilnehmer am Kolloquium
ohne Rücksicht auf Vollständigkeit (es wurde keine offizielle Teilnehmerliste geführt):
OBM Chistian Scheffler, Sieversdorf
OBM Kristian Wegscheider, Dresden
OB Philipp C. Klais, Bonn
OBM Matthias Schuke OB Klaus-Michael Schreiber, Werder,
OSV/OB Friedrich Drese (Sachverständiger der ehem. Landeskirche Mecklenburg, heute Nordkirche)
OBM John Pike Mander, London
OBM Johann-Gottfried Schmidt, Rostock
OSV/OB Dr. Martin Kares, Karlsruhe
Prof. KMD Wolfgang Baumgratz, Domorganist Bremen (als Berichterstatter für GdO/“Ars organi“)
Prof. Dr. Hermann J. Busch (Organist und Orgelforscher an der Universität Siegen) mit Sibylle Schwantag
Beatrix Dräger-Kneißl, Landesdenkmalamt Schwerin (zuständig für Orgeln)
Frank Sakowski, Bauleiter an St. Marien für Angelis & Partner, Wismar
Tilman Jeremias, Pastor an St. Marien
Uta Jahnke, Denkmalschutzbehörde der Hansestadt Rostock
Wolfgang Leppin, ehemaliger OSV der Mecklenburgischen Landeskirche, Güstrow
OSV Oliver Horlitz, Berlin
Regina Klee, Restauratorin
Alexander Eckert, Orgelbauer/Restaurator
Hans-Dieter Karras, Organist
Wolfgang Gourgé, Orgelkundler, Stade
und weitere Interessierte
Organisation und Moderation: Karl-Bernhardin Kropf, Kirchenmusiker an St. Marien Rostock
Die hier abrufbaren Bilder wurden dankenswerter Weise von Wolfgang Gourgé zur Verfügung gestellt!